Nürnberger Nachrichten: »Schwerer Abschied vom Ziel der Feinverteilung«
Integrationsprojekt erprobte Entwicklungschancen in städtischen Migrantenvierteln – viel Lob für Nürnberg
»Zuwanderer in der Stadt« hieß ein von der Darmstädter Schader-Stiftung initiiertes und vom Bund gefördertes Projekt, in dem sich drei Jahre lang acht deutsche Großstädte mit dem Thema Integration beschäftigten. In Nürnberg – einer der beteiligten Städte – wird bei einem zweitägigen Schlusskongress Bilanz gezogen.
NÜRNBERG – Lang prägte ein idealtypisches Bild die deutsche Debatte zur Migrantenintegration, das mit der Wirklichkeit recht wenig zu tun hatte. Die These von der »Feinverteilung der Zuwanderer« nennt Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly diesen Ansatz. »Je feiner verteilt über das Stadtgebiet, desto unauffälliger«, lautete die Annahme. Und die gleichen Leute, die das glaubten, so Maly, »fuhren, wenn sie New York besuchten, als erstes nach China Town und Little Italy«, um sich am Bild eines von Zuwanderern geprägten Stadtteils zu erfreuen.
Viele Tipps
Als vor drei Jahren das Projekt »Zuwanderer in der Stadt« mit »Empfehlungen zur stadträumlichen Integrationspolitik« startete, bei dem ein aus Wissenschaftlern und Praktikern gebildetes Expertenforum den beteiligten Kommunen an die Hand ging, waren nicht diese Ratschläge das Bemerkenswerte. Es ging im Wesentlichen um Tipps, wie die Aktivitäten von Verwaltung, sozialen Trägern und Wohnungsunternehmen in den betroffenen Quartieren zu bündeln, wie Bildung, Spracherwerb und berufliche Orientierung in Zuwandererfamilien zu optimieren oder wie die gesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten von Migranten zu steigern sind.
»Wir haben das Rad nicht neu erfunden«, räumt Projektleiter Christoph Kulenkampff von der Schader Stiftung ein. »Einige haben uns diesen Mangel an Originalität vorgehalten.« Aber Kulenkampff weiß auch, wie provozierend die eigentlich zentrale Fragestellung war: »Wie kann Integration trotz stadträumlicher Segregation gelingen?« Sprich: Das Projekt orientierte sich an der Realität. Und die sieht nun einmal so aus, dass sich Zuwanderer am liebsten in jenen Stadt-Quartieren niederlassen, wo schon viele Landsleute leben.
Ein wichtiger Grund, solche Segregation zunächst einmal zu akzeptieren, ist die Einsicht, dass in den betroffenen Stadtteilen nicht der hohe Ausländeranteil das eigentliche Problem darstellt, sondern die weit verbreitete Armut der Wohnbevölkerung. Mit dieser sozialen Segregation wollten sich die Projekt-Initiatoren nicht abfinden. »Es muss versucht werden, gesellschaftlich erfolgreiche Zuwanderer im Quartier zu halten«, sagt Kulenkampff. Geschäftsleute etwa oder Familien, die ihren Kindern höhere Bildungsqualifikationen ermöglichen.
Nicht überall stieß dieser Ansatz auf Gegenliebe. Bettina Reimann vom Deutschen Institut für Urbanistik, die das Projekt wissenschaftlich begleitete, berichtet von den Bedenken in Berlin. Die Bundeshauptstadt war mit dem Stadtteil Moabit-West am Programm beteiligt. »Die sagten: Unsere Probleme dort sind so groß, wir möchten nicht, dass ihr die Segregation jetzt auch noch positiv besetzt.«
Um eine Kapitulation vor den Verhältnissen oder gar die aktive Förderung von Segregation sollte es jedoch in dem Projekt nicht gehen. Kulenkampff und andere wollten nur die Einsicht fördern, dass den Städten – nicht zuletzt wegen des Rückzugs aus dem sozialen Wohnungsbau, in dem noch Belegungsquoten festgelegt werden konnten – kaum klassische Steuerungsinstrumente bleiben. Beim Gesamtverband der Wohnungswirtschaft (GdW), der mit im Projektboot saß, mag man trotzdem nicht endgültig Abschied von der Vorstellung nehmen, »eine Durchmischung erreichen zu können«. Weil, wie GdW-Präsident Lutz Freitag sagt, »die Probleme in Deutschland längst nicht so groß sind wie in Frankreich oder Amerika«.
Leise Enttäuschung wurde vor allem bei den wissenschaftlichen Begleitern laut, was das Interesse und die Kooperationsbereitschaft der Wohnungsunternehmen in einigen Städten anging. Am besten war sie bei jenen, die mehrheitlich der Kommune oder dem Land gehörten. Wie beispielsweise in Nürnberg. Wie die fränkische Stadt – verglichen mit Berlin, Hamburg, Essen, Frankfurt, Hannover, Mannheim und München – im Urteil der Verantwortlichen ohnehin glänzend wegkam. »Nürnberg war die Spitze«, lautet das Fazit von Projektchef Kulenkampff, »weil sich hier der Oberbürgermeister beim Thema Integration an die Spitze der Bewegung gestellt hat.«
Selbstvertrauen und Bildungsbewusstsein will der Mädchentreff in Nürnberg St. Leonhard seinen jungen Besucherinnen vermitteln. Einer von vielen Ansätzen bei der Integrationsarbeit.
Nürnberger Nachrichten: »Mehr arme Familien – ›Kinder geistern morgens allein in der Wohnung herum‹«
Weit über ein Fünftel der Familien in Nürnberg lebt knapp an oder schon unter der Armutsgrenze. Als arm gilt hier zu Lande, wer nur bis zu 600 Euro im Monat zur Verfügung hat. Besonders Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene rutschen leicht ab. 17 Prozent der Kinder, die eingeschult werden, leben bereits in strenger Armut.
Brigitte Wellhöfer, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtrat und sozialpolitische Sprecherin, hat zu diesem Thema Experten zu einem Fachgespräch in die Villa Leon eingeladen, um von ihnen Auskunft zu bekommen, was die Stadt vorbeugend dagegen tun kann.
Georg Hopfengärtner vom Sozialreferat der Stadt und Autor des jüngsten Nürnberger Sozialberichts hat festgestellt, dass die Armut mit Kindern zunimmt. Er hält es deshalb für dringend geboten, die Kinderbetreuung »auf allen Ebenen« zu verbessern und zu erweitern. Dazu gehören auch der Ausbau von Ganztagesangeboten und eine längere Orientierungsphase statt früher Selektion an den Schulen. Er kündigte ein Programm zur Armutsprävention in der Stadt an.
Schuldenfalle Handy
Jesse Dykast, Mitarbeiter der Schuldner- und Insolvenzberatung der Iska in Nürnberg - sie ist auch für das Nürnberger Land zuständig - hält es für ein großes Manko, dass Armuts-Prävention in seiner Einrichtung vom Staat nicht finanziert wird. Dabei steige der Bedarf. »Im Jahr 2000 hatten wir 2700 Beratungen, im vergangenen Jahr waren es schon über 4000.« Für dringend notwendig hält er eine spezielle Einrichtung für Jugendliche. Bei ihnen steigt die Verschuldung merklich. Schuldenfalle Nummer eins ist das Handy. Dykast warnt: »Wer früh mit Schulden anfängt, legt sehr leicht eine steile Schulden-Karriere hin.«
Achim Mletzko, Vorsitzender des Kreisjugendrings (KJR), hat die Beobachtung gemacht, dass die Höhe der Handy-Rechnung abhängig ist vom Bildungsgrad des Nutzers. »Wer ein geringes Selbstwertgefühl hat, erliegt den Konsumverlockungen sehr schnell.« Verschärft wird die Situation dadurch, dass Banken versuchen, den Jugendlichen Kredite »hinterherzuwerfen«. Viele fallen auf den Slogans wie »3000 Euro, jetzt und sofort« herein. Ziel müsse es deshalb unter anderem sein, Jugendliche zu stärken durch Erlebnisse in der Gemeinschaft und sie gegebenenfalls aus schwierigen Familiensituationen öfter rauszuholen. Die Zahl der Kinder nehme zu, die früh aufstehen und allein durch die Wohnung geistern, weil sonst niemand mehr da ist. Das sei eine große seelische Belastung für sie.
»Prekäre Lebenslage«
Sybille Fenzel vom Verein Mädchentreff, der sich um Mädchen im Alter von 6 bis 14 Jahren im Stadtteil Sankt Leonhard kümmert, hat mit vielen Familien zu tun, deren Lebenslage durch Arbeitslosigkeit oder Scheidung »oft prekär« ist. Einen Ausweg bieten ihrer Ansicht nach bessere Bildungschancen in der Schule, außerschulisch, aber auch in der Familie. Mehr Horte, mehr Hausaufgabenbetreuung, aber auch zum Beispiel mehr Möglichkeiten, das Angebot von Vereinen oder Kirchengemeinden zu nutzen, gehören dazu. Für sie gibt es dafür auch in Nürnberg einen großen Nachholbedarf. Wie notwendig Verbesserungen sind, und welche Bedeutung die soziale Herkunft spielt, zeigt die Statistik. In Sankt Leonhard gehen etwa 80 Prozent der Kinder nach der Grundschule in die Hauptschule, in Erlenstegen dagegen gehen 80 Prozent der Kinder auf ein Gymnasium.
Helmut Herz, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (Awo) im Kreisverband Nürnberg, hält es für wichtig, etwas dafür zu tun, dass Kinder nicht zwangsläufig ihren Eltern in die Armut folgen müssen, »unabhängig davon, ob die Eltern etwas für ihre Situation können oder nicht«. Da müsse es eine Zäsur geben. »Kinder dürfen nicht für ihre Eltern haften.« Schlüssel dazu ist für ihn ebenfalls die Möglichkeit von Kindern aus ärmeren Schichten, auch an außerschulischen Bildungsangeboten teilhaben zu können. Kinder aus ärmeren Milieus haben einen »geringeren Aktionsradius um ihr häusliches Umfeld«. Sie könnten zum Beispiel weniger Freunde einladen, seltener ins Kino, oder nicht so oft an Ausflügen teilnehmen. Mitunter sei schon ein warmes Mittagessen ein Problem. Aus all dem entstünden Defizite, die ausgeglichen werden müssen. »Solchen Kindern und Jugendlichen muss man Möglichkeiten eröffnen, die sie zu Hause nicht haben.« Eltern dürften dabei nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden, die Gesellschaft könne aber etwas tun, um die Erziehungskompetenz der Eltern zu erweitern. Für die Arbeiterwohlfahrt ist es dabei wichtig, auf die Eltern zuzugehen. »Wir warten nicht, bis sie zu uns kommen, das wäre eine zu große Barriere.«